10-06-2013
Sonnenschein statt Schneematsch
Von Karl Brand
Schuberts “Winterreise” als englischsprachiger Jazz-Pop? Das funktioniert, wie die Österreicherin Lia Pale beweist.
“Nun ist die Welt so trübe, der Weg gehüllt in Schnee”, heißt es im ersten Lied von Schuberts “Winterreise”, dem abgründigsten Liederzyklus aller Zeiten. 2013 heißt die entsprechende Zeile so: “But now the world seems overcast / Deep snow lies on the land”. Schubert auf Englisch? Ja, Lia Pale, die auf ihrem Album elf der 24 Lieder singt, hat nicht den Anspruch, nur eine x-beliebige oder die x-te Interpretation des unsterblichen Werkes zu bieten. Nein, sie jazzt. Auf “Gone Too Far” wird die 27-jährige Österreicherin dabei von Matthias Rüegg (Klavier), Harry Sokal (Saxofon), Ingrid Oberkanins (Schlagzeug) und Hans Strasser (Kontrabass) begleitet. Dürfen Puristen darüber die Hände über dem Kopf zusammenschlagen?
Dürfen sie. Und dennoch: Rüegg, der die Lieder zu Songs arrangiert hat, ist mit allen Wassern gewaschen. Da wird zwar alles weichgespült im Gegensatz zum Original mit seinen (Aus-)Brüchen, seinem Wandeln auf dem allerdünnsten Eis des Lebens – aber wie! Rüegg zeigt, wie zeitlos Melodien und Akkordfolgen sind – die Dramatik interessiert ihn nicht, und das ist auch gut so. Denn ansonsten wäre das Album im Schnee versunken. Für genau diesen locker-leichten Ansatz – immer wieder blitzen Latino-Rhythmen durch, dazu darf jedes Instrument ausgiebige Soli kredenzen – passt Lia Pales charmanter, ja bezaubernder Sopran wunderbar.
Federleicht tanzt sie durch die Songs. Klar, “Der Lindenbaum” (“Am Brunnen vor dem Tore”) darf nicht fehlen, wird aber als einziges Lied strukturell verändert. Und zum Schluss, nach der “Erstarrung” – pardon: nach “Footprints Can’t Be Seen” – folgt vielleicht die schönste Nummer: die Wiederholung der “Footprints”, allerdings dann ganz behutsam karg für Kontrabass und Stimme arrangiert und “Gone Too Far” genannt. Geht Pale damit zu weit? Zu diesem Urteil mögen Hörer kommen, denen die “Winterreise” unendlich viel bedeutet. Jene hingegen, die das Werk nicht kennen, werden auf dieser Reise verzaubert. Auf Lia Pales Weg herrscht Sonnenschein statt trübem Schneematsch.