Werktreue des Ausdrucks – Ausdruck der Werktreue
An jenem Januarmorgen 2014 herrschte klirrende Kälte. Ich flüchtete mich ins Innere des Basler Rundfunkgebäudes, wo ich als Gesprächsgast zur Aufzeichnung einer Sendung über Schubert erwartet wurde, zu einer Reise durch die Winterreisen. Bei einer heissen Tasse Kaffee gewährte mir die freundliche Radioredakteurin einen Überblick über das, was mich erwartete. Es sollte unter anderem der Frage nachgegangen werden, ob die laut zeitgenössischen Quellen verstörende Wirkung der 24 schauerlichen Lieder (Schubert) heute noch nachvollziehbar ist. Bearbeitungen von lebenden Komponisten wie Hans Zender und Mathias Rüegg sollten demonstrieren, wie sie heute klingen könnten.
Hörte ich richtig? Rüegg? Der Rüegg vom Vienna Art Orchestra? Die Redakteurin nickte und kostete den Moment meiner Überraschung genüsslich aus. Sie reichte mir die Hülle einer mit gone too far betitelten CD-Aufnahme. LIA PALE, stand in grossen Lettern über dem Portrait einer jungen Frau, das wie aus der Zeit gefallen schien; hart kontrastierendes Schwarzweiss. Das Zusammenspiel aus durchdringendem, die Kameralinse fokussierendem Blick und schützend zum Hals geführter Linken barg eine faszinierende Brisanz. Auf frischer Tat ertappt, sagte diese Körpersprache, gone too far. Ich wurde unversehens zum Komplizen dieser enigmatischen Gestalt. Gone too far; ohne Frage- oder Ausrufzeichen, eine nüchterne Feststellung. Mir erschloss sich ein Ensemble aus Bild und Worten, das Gewissheit vermittelte: Der Zweck heiligt die Mittel.
Der Zweck einer wie auch immer gearteten künstlerischen Darstellung der Winterreise, diesem Meilenstein abendländischen Kulturschaffens, besteht fraglos darin, existenziellen menschlichen Schmerz in all seinen Ausprägungen hörbar zu machen. Auf dem Heimweg schob ich die Platte ein, gespannt, aber mit der Skepsis des klassischen Musikers, der auf Werktreue und Unantastbarkeit des Urtexts eingeschworenen ist. Doch schon bei den ersten Takten von Gute Nacht – You Will Not Hear Me Leaving erfasste mich ein Zauber, dem ich mich bis zum letzten Lied nicht entziehen konnte. In den zwölf auskomponierten Adaptionen ausgewählter Winterreise-Lieder begegnete ich einer Farbpalette, die sämtliche auf dem europäischen Tonsystem basierenden tonsetzerischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts in sich trägt und transzendiert. Es ist die Gesamtschau einer durch und durch eigenständigen, persönlichen musikalischen Ästhetik, mit individuellen Grooves, für die jeder Klassifizierungsversuch zu kurz greift. Hier wird kein Schubert „verjazzt“, sondern mit Mitteln des Jazz durchdrungen. Das kompositorische Gebot, das Original formal, melodisch und harmonisch unangetastet zu lassen, setzt der Fülle an individuellen Ideen natürliche Grenzen und bannt die nicht unerhebliche Gefahr der Überfrachtung.
Es gibt auch eine inhaltliche Werktreue, dachte ich bei mir, die Werktreue des Ausdrucks. Und der Gedanke beglückte mich auf wundersame Art. War diese „halbe Winterreise“ gewissermassen die Vorhut dessen, was wir nun mit A Winter's Journey in den Händen halten? Oder war sie eine ans Publikum gerichtete Frage: Gone too far?
Darauf angesprochen, erzählt Julia Pallanch (Lia Pales bürgerlicher Name), sie sei sich in keiner Weise darüber im Klaren gewesen, worauf sie sich eingelassen habe und dass es mathias rüegg (der seinen Namen kleingeschrieben wünscht) wohl ähnlich ergangen sei. Dieser hatte gerade seine Abschiedsvorstellung mit seinem Vienna Art Orchestra gegeben, was einen gewaltigen Einschnitt in sein Leben bedeutete. Das entstandene Vakuum habe er mit Klavier üben und dem Abhalten von Vorlesungen an der Musik-Uni in Wien gefüllt, wo sie eines Tages in seiner Klasse gesessen sei. Ihre Zusammenarbeit habe mit ihrem in die Tat umgesetzten Wunsch begonnen, ihm vorzusingen. Es traf sich, dass mathias gerade die Musik für den New Yorker Big Apple Circus geschrieben hatte, darunter Arrangements des Lindenbaums und der Einsamkeit aus der Winterreise. Um dem Regisseur in Übersee einen Höreindruck der Arrangements zu vermitteln, bat er Julia, sie diesem über Skype vorzusingen.
Für Schuberts und Müllers Wandersmann gibt es bekanntlich kein Zurück, nachdem er sich auf leisen Sohlen in die winterliche Nacht verabschiedet hat. Und so treten auch Julia und mathias ihre nunmehr fünfjährige gemeinsame Winterreise an. Julia erinnert sich gut daran, wie verloren sie sich bei den ersten Schritten mit diesem Opus Magnum gefühlt habe. „mathias und ich waren Anfänger im Umgang mit dem überwältigenden Material. Unsere unterschiedlichen Lebensgeschichten spielten überhaupt keine Rolle. Wir trafen uns künstlerisch an einem Punkt, an dem wir sozusagen unbeschriebene Blätter waren.“ mathias wiederum nennt das Projekt nicht ohne Galgenhumor „seine letzte und ihre erste Chance“. Sämtliche künstlerischen Entscheide haben die beiden seither während des Spielens und Probierens gemeinsam getroffen.
gone too far – mit medialen Lobeshymnen und Preisen eingedeckt – ist also vielmehr Etappenziel denn Versuchsballon. Es ist gleichzeitig ihr Debüt als Sängerin und sein Erstling als „Playing Arranger“ – und es bestärkt beide in ihrem Willen, unermüdlich weiterzugehen.
Mit A Winter's Journey kommt ein künstlerisches Gemeinschaftsprojekt zu seiner Vollendung, das genau so gut den Titel gone even further tragen könnte.
Wilhelm Müllers Gedichte stehen am Anfang des Entstehungsprozesses der Lieder. Julia hat sie ins Englische in eine für sie sangbare Sprache übertragen. „Die Übersetzungen sind der Grundstein meiner Interpretation, ja sie sind bereits Teil meiner Interpretation.“ Jede Sprache sei gewissermassen an ihre eigene rhythmische Struktur gebunden. Das Englische biete ihr dabei die grösstmögliche expressive Freiheit, es fühle sich für sie am natürlichsten an. Die Zusammenarbeit mit mathias ist für sie nicht einfach zu beschreiben, einerseits weil sie so intensiv sei, anderseits weil sie sich über die Jahre stark verändert habe, während und wohl auch wegen der Winterreise. Die Lieder verlangten ihr alles ab. Die ganze Zeit stosse man an seine Grenzen, was enorm viel Geduld, Ausdauer und Toleranz erfordere – sich selber und dem anderen gegenüber. Die Winterreise habe sie zu einer Schicksalsgemeinschaft werden lassen – fast so, als hätten sie einen Pakt geschlossen. Alle Arrangements stammen von mathias. Dabei kennt er die Charakteristika ihrer Stimme bis ins letzte Detail, antizipiert sämtliche Eigenheiten der Phrasierung und Artikulation. „Jede Phrase, die er mir gibt, sitzt wie massgeschneidert.“ Dabei seien ihre ästhetischen Ideale weitgehend deckungsgleich.
Während Julia erzählt, mache ich mir Gedanken über ihr Alias. Lia Pale scheint schwer fassbar, sie entzieht sich, wirkt entrückt. Auch ihre Fotos offenbaren stets neue schillernde Facetten. Sie ist – wie Müllers Lyrisches Ich – eine perfekte Projektionsfläche. Robert Schumanns alter egos hiessen Florestan und Eusebius. Ist Lia Pale womöglich auch mehr als bloss ein Künstlername? Ist sie Julias alter ego, Lyrisches Ich, die Winterreisende? „Verrückt, aber es ist wohl so, wie du sagst. Lia Pale ist die Winterreisende, denn sie ist durch unsere Winterreise entstanden. Sie war plötzlich da und marschierte los.“ Lia habe all das gekonnt, was Julia nicht konnte. Das habe zu inneren Konflikten bis an die Grenze des Zerrissenseins geführt. Sie habe erkannt, dass Lia Pale im Grunde als Chiffre für den Teil ihres Ichs stand, der singt, musiziert, auf der Bühne erscheint. Wenn sie sang, entfremdete sie sich von sich selber, war weder Frau noch Mann – oder war beides – fühlte sich frei, konnte alles sein.
Ist Lia Pale demnach keine spezifisch weibliche Winterreisende? „Heute vielleicht mehr als früher“, erklärt Julia, denn die Winterreise habe, so melodramatisch es auch klinge, sie und ihr Leben verändert. Künstlerische Entstehungsprozesse bedingen das ständige Loslassen von sich selbst, ehe die Resultate nach aussen dringen. In ihrem Falle sei das derart kräftezehrend gewesen, dass sie an einem gewissen Punkt nicht mehr sicher war, ob sie genügend Kraft für die Vollendung des Weges haben werde. So habe Julia entschieden, es Lia gleichzutun, und marschierte los – im wahrsten Sinne des Wortes. Im Frühjahr 2016 machte sie sich auf eine 34-tägige winterliche Pilgerschaft, alleine. „Ich wollte alles, was Lia singt, am eigenen Körper erfahren. Jedes der Lieder ist so auch für mich – Julia – zu einem grossen Teil gelebte Wirklichkeit geworden. Heute BIN ich Lia Pale, denn es war Julia Pallanch, die durch ihre Pilgerschaft die Kraft für die letzten Etappen aufbrachte und damit eins wurde mit ihrem alter ego.“
Beim Hören des Zyklus – die 12 „alten“ Lieder von gone too far sind teilweise umarrangiert und neu aufgenommen, alle aber neu eingesungen worden – fällt tatsächlich auf, dass sich die Stimme der Protagonistin stark gewandelt hat. Sie scheint tiefer zu sitzen, lässt alles Unbeschwerte und Jungmädchenhafte hinter sich zugunsten einer noch reicheren, dunkleren Ausdruckspalette. A Darker Shade of Pale, fällt mir ein (in Anlehnung an Procol Harums A Whiter Shade of Pale). Die Arrangements wirken sparsamer, knapper, die Instrumentalsoli vieldeutiger. In der ersten Strophe von Gute Nacht sowie im letzten Lied, Leiermann, singt Lia Pale – anders als in gone too far – deutsch. Sie macht dabei keinen Hehl aus ihrem österreichischen Idiom, es ist die Sprache Schuberts. Damit erzielt sie eine kathartische Wirkung: Der barfüssige Leiermann im Schnee wird gleichsam „barfuss“, in der Muttersprache, besungen.
Ich stelle Julia eine letzte Frage: „Stell dir vor, du begegnest Franz Schubert heute auf den Strassen Wiens. Wie erklärst du ihm eure Musik, die doch – bewundernswerterweise – melodisch, harmonisch und formal so sehr seine geblieben ist? Was für eine Reaktion erwartest du von ihm?“
„Womöglich brächte ich kein Wort heraus und würde mit hochrotem Kopf vor ihm stehen, ihm vielleicht vorsingen, vortanzen, mich bedanken und gleichzeitig entschuldigen. Und ihn dann auf ein Glas Wein einladen.“ Ihr sei aus zeitgenössischen Quellen bekannt, dass er das Tanzen und die Tanzmusik liebte, solche auch selber spielte und darüber improvisierte. Sie hoffe deshalb – mit einigem Recht, wie mir scheint – dass er an den Rhythmisierungen und harmonischen Verfremdungen seiner Vorlage Gefallen finden würde. Sie würde versuchen, ihm deutlich zu machen, dass es ihr höchstes Ziel gewesen sei, die Tragik, die Schwere, die Tiefe, den Schmerz, die Verzweiflung und Resignation in den Liedern zu erhalten, sie mit Mitteln des Hier und Jetzt neu auszudrücken, so gut es ihr und mathias rüegg eben möglich gewesen sei. Grundsätzlich hoffe sie, dass er vielleicht – ähnlich wie Gershwin – Freude daran hätte, dass sein Werk weit über seine Zeit hinaus ein solches Eigenleben entwickelt hat und dass jede Generation es immer wieder neu und anders für sich entdeckt.
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