Die junge Frau und der Jazz
Die gute Nachricht zuerst: Stefani Germanotta alias Lady Gaga hat mit Tony Bennett ein Jazzalbum aufgenommen, das den Namen Jazz auch verdient: Tony Bennett & Lady Gaga: "Cheek to Cheek" (Interscope). Es ist sehr erfreulich, dass ein Superstar des Pop so etwas überhaupt wagt. Dazu noch in einer Zeit, in der der Jazz immer mehr abhanden kommt und kaum mehr wahrgenommen wird. War der (neuere) Jazz in Europa ab Mitte der 70er Jahre und vor allem in den 80er Jahren wieder sehr präsent - nicht zuletzt dank Miles Davis und „dessen“ Pianisten Herbie Hancock, Keith Jarrett, Chick Corea und Joe Zawinul, die die Jazzmusik (ein letztes Mal?) unter Einbeziehung verschiedenster Stilistiken revolutioniert hatten, und sich so noch gegenüber der omnipräsenten Popmusik behaupten konnten - so befindet er sich seit 20 Jahren massiv auf dem Rückzug. Seine Zeit scheint abgelaufen zu sein. Das gewaltige musikalische Erbe – nicht zufällig entstand der Jazz zusammen mit der Schallplatte – reicht allerdings, um x nachfolgende Generationen zu erfreuen. Diese Musik, die die Schwarzen als „ihre Klassik“ erfunden hatten, nachdem sie am klassischen Konzertbetrieb der Weißen nicht teilhaben durften. Diese Musik, die in den 20er Jahren das „Jazz Age“ eingeläutet hatte, dass wohl aufregendste Jahrzehnt, dass je existiert haben dürfte. Diese Musik, die dank des Swing weltweit populär während beinahe vier Jahrzehnte war. Diese Musik, die einst Synonym für Freiheit und Zukunft war. Diese Musik, die Leichtigkeit und metaphysische Schwere perfekt miteinander verbindet. Diese Musik mit der grösst möglichen komplexen Rhythmik. Diese Musik, die mit dem Album „Miles Davis live in Europe“ 1963 den Höhepunkt in ihrer Entwicklung erreicht hatte. Diese Musik, aus der Gospel, Soul, Rock’n Roll, Pop und Rock entstanden sind. Aber auch diese Musik, deren Inhalt und Bedeutung nicht mehr verständlich und vermittelbar sind und die in einem Meer von bedeutungslosen und virtuosen Leerfloskeln ertrinkt, auf dem Weg zum musealen Status der klassischen Musik. Diese Musik, die so easy selbstverständlich daher kommt, aber so schwer zu spielen ist. So, und jetzt wären wieder bei Lady Gaga, die nicht so wirklich verstanden hat, worauf es im Jazz ankommt. Es geht nicht darum, möglichst alle paar Sekunden das Timbre und die Stilistik zu wechseln und alles in einem Song auszupacken, was man irgendwie „drauf“ hat. Es geht darum, in einen Song hinein zu hören und ihn auf einen eigenständige Art und Weise zum Leben zu erwecken. Allerdings hat ihre Crazyness während der Aufnahmen auch etwas Charmantes. Worum es wirklich geht, zelebriert der 88jährige (!)Tony Bennett perfekt. Denn auf dem Notenpapier steht nie, wie man etwas machen soll. Ein Lied von Bach, Mahler, Gershwin oder John Lennon schaut auf dem Notenpapier fast gleich aus. Es geht darum herauszufinden, unter welchen Bedingungen, in welchem Kontext und aus welchem Bedürfnis heraus die Noten auf das Papier gelangten. Und das findet man nur heraus, wenn man sich damit intensiv beschäftigt. Deshalb als Gegenvorschlag eine junge unprätentiöse Amerikanerin, die den Jazz für sich neu entdeckt hat und in dieser Musik aufblüht: Stefanie Nilles, http://www.stephanienilles.com
mathias rüegg
Der nächste Eintrag folgt am 5.11.