Als man noch wusste, dass man zu den Guten gehörte!
Aufgewachsen in einem klassischen Elternhaus, ohne Radio und Fernsehen, dafür mit einem Plattenspieler und ausschließlich klassischen Platten, vor allem Bach und Mozart. Und natürlich mit klassischem Klavierunterricht. Mit vierzehn dann zum ersten Mal den Schlager Marina, Marina entdeckt, danach mit dem klassischen Klavierspiel aufgehört. Comeback auf dem Klavier mit sechzehn, nachdem ich einen Pianisten Memories of Heidelberg habe spielen hören und das auch können wollte. Nach ein paar eher kläglichen Jazzversuchen folgte meiner Hammond L 100 eine Rockband, bereits mit drei Bläsern und einem Geiger. Und Schumanns Klavierstücke von einst wurden nun heftig bearbeitet, mit Emerson Lake & Palmer als Vorbild. Ab zwanzig fanden dank Hesse und Drogen grössere Bewusstseinserweiterungen statt, die geradewegs in die freie Improvisation führten.
Und die hatte es in sich! Endlich konnte ich mich von allen Zwängen befreien, musste nicht mehr üben sondern „spielte“ nur noch. Parallel dazu entdeckte ich, dass die Welt schlecht war, wobei ich selber glücklicherweise zu den Guten gehörte. Dank meiner humanistischen Ausbildung unterrichtete ich mich in Rhetorik gleich selber und war wie viele andere Gleichaltrige bereit, den Kampf gegen das Böse aufzunehmen. Auch gegen das Böse in der Musik. Gemeint war damit d i e Musik, die „wir“ selber nicht spielten und die vor allem unserem hohen Bewusstsein nicht entsprach. Also „konventionelle“ Musik, die nicht politisch orientiert war - Musik, die die Welt nicht verändern wollte.
Das Wunderbare daran war, dass man freie Improvisation nicht kritisieren konnte, weil sie sich allen Bewertungen deswegen entzog, da es ja um das spontane Ausdrücken der eigenen Gefühle (so hieß das Wort damals noch!) ging. Und die standen natürlich weit über allem. Und da man als Individuum einzigartig ist, war natürlich auch die Kunst eines so einzigartigen Individuums einzigartig. Man war also in dem Moment Künstler, in dem man sich dazu bekannt hatte, dass man einer ist. Und damit war man automatisch unangreifbar. Und als nichtbürgerlicher, also als einzig wahrer Künstler, musste man systemunterstützende Künstler, also solche, die sich nicht dezidiert vom Kapitalismus distanziert hatten, als dessen Handlanger kritisieren. Und da man eben die hochbewusste, hochpolitische und hochspontane Improvisation ja nicht üben konnte, zog man daraus den Schluss, dass nur Musiker ohne Bewusstsein üben. Intelligente arbeiten am eigenen Bewusstsein, an der Rhetorik an den eigenen Gefühlen. Und man konnte gleichzeitig noch die Welt retten – durch das musikalische Verbreiten des eigenen Bewusstseins!
Aber wir waren doch noch fast Kinder, wir wussten es nicht besser! Doch so ernst haben wir es dann ja auch wieder nicht gemeint. Nennen wir es einfach jugendliche Verirrungen, sprich Jugendsünden.
mathias rüegg
Ps: aber wieso tauchen die selben Verirrungen vermehrt wieder auf, vertreten durch meist mittelalterliche Kuratoren und Intendanten in den verschiedensten Kunstsparten, die wohl im Zeitgeist der 70er Jahre hängen geblieben sind?
Der nächste Eintrag folgt am 15.10.