to blog or not to blog # 5, 15.09.2014

Von der Utopie einer musikerfreien Gesellschaft

„David Guetta, Richie Hawtin, Marco Carola – DJs, die für Gagen unter 50.000 Euro pro Abend oft nicht einmal ihre Kalender-App aufrufen. Doch trotz fantastischer Summen und eines weltweiten Hypes: als „Musiker“ im eigentlichen Sinne gilt ein DJ noch immer nicht...Schließlich ist dieser Eintritt in diese Glitzerwelt mit relativ geringen  Investitionen verbunden. Etwa 2000 Euro kostet ein semiprofessionelles Equipment. Doch danach beginnt erst der mühsame Teil: das Durchsuchen von Blogs nach neuen Veröffentlichungen, das Ausprobieren, wie die Lieder zu mischen sind, wie die Reihenfolge einer Dramaturgie folgt und aus dem Set eine musikalische Reise wird – das waren die ersten Grundlagen für meinen ersten Auftritt mit einem DJ-Kollektiv. Und der war aus heutiger Sicht dürftig. Jahre hat es gedauert, bis ich die DJ-Software verstanden habe, bis meine Schweinsohren den Unterschied zwischen guter und schlechter Soundqualität erkannt haben. Auf dem Weg dorthin: übersteuerte Soundsysteme. Kaputte Boxen, verhaute Übergänge, Partygäste, die ein Geburtstagslied einfordern, ein kaputter Laptop..“
Soweit aus dem Alltag eines österreichischen  DJs laut Standard, Leben vom 13./14.9.

Wenn man Ian Mortimers wunderbarem Buch Im Mittelalter, Handbuch für Zeitreisende Glauben schenken darf, dann war die beste Zeit aller Zeiten für Musiker wohl in England, und zwar so  um das 13.Jh. In einer Zeit, wo keine Reise und kein lokaler Feldzug ohne Musiker unternommen wurden. Je mehr, desto besser. Auf Reisen, speziell in der Nacht, hielt der „Lärm“ der Musiker potentielle Diebe ab und  die Reisenden wach. Und auf den Feldzügen hatten sie für gute Stimmung zu sorgen. Je grösser und lauter die „Band“, desto angsteinflößender der Vorstoß! Und das alles noch gut bezahlt. 

Die Musiker jedenfalls waren über weitere Jahrhunderte unersetzbar, bis zum Beginn der Moderne, wobei ein besonderes Beispiel ins Auge sticht: der amerikanische Erfinder Thaddeus Cahill analysierte, welche Summe den Musikern allein in N.Y.C pro Jahr in Restaurants bezahlt wurde, und wie viel Geld man mit einer alternativen, also billigeren Lösung verdienen könnte, wenn man all diese Musiker ersetzen würde. So entwickelte er 1897 eine 200 Tonnen schwere Maschine, das Telharmonium, mit der er alle Lokale gleichzeitig über Telefonleitungen mit Musik beliefern wollte. Er fand genügend begeisterte Investoren, und das ganze hätte beinahe funktioniert, scheiterte dann aber am zu schlechten Telefonnetz.

Jedenfalls war ein Gedanke geboren, der ab Ende der 70er Jahre immer mehr zum Credo wurde. Mit Popmusik möglichst viel Geld zu verdienen, bei flächendeckender Ausschaltung der Musiker. Das passierte bereits (unbeabsichtigterweise) 1949 einerseits in der Avantgarde, in Pierre Schäfers Musique Concrète, der ersten Form von elektronischer Musik, dann in der Klassik z.B. vom Japaner Isao Tomita, der u.a. 1975 Mussorgskys Bilder einer Ausstellung auf dem Synthesizer umsetzte. Kraftwerk (durchaus nicht unoriginell) gehörte etwa auch in diese Kategorie, in der es darum geht, Musik mit „Maschinen“ und nicht mehr mit (herkömmlichen) Instrumenten herzustellen, wobei der Synthesizer die Rock- und Pop- und Kommerzmusik eroberte. Schlagzeuger wurden durch Drum Computer, Hammond, Fenderpiano oder Klavier durch Keyboards, bzw. durch Sequenzer ersetzt. Und schlussendlich konnte man Hilfe des MIDI-Systems Streicher, Trompeten, Posaunen, Harfe, also praktisch alles imitieren. Selbst im Musicalbereich begann man zu rechnen, und stellte fest, dass synthetische Instrumente wesentlich billiger als Musiker sind. Also begann man ohne Rücksicht auf den Klang immer kleinere Ensembles zu verwenden. Die Jazz Bigbands der europäischen Rundfunkanstalten mussten größtenteils weichen, dem Großteil der klassischen Symphonieorchester dürfte Ähnliches bevorstehen. Musiker schienen irgendwie immer mehr zu stören. Und das alles unter dem Motto: genial, man hört ja gar keinen Unterschied!

Dazu entwickelte sich parallel die Playbackshow/Rap und Ähnliches. Da schien das Ziel fast erreicht: nur noch ein Frontman auf der Bühne und die Musiker in die Konserve verbannt. Sätze wie „Die Musik ist zu wichtig um sie den Musikern zu überlassen“ oder „nur noch dumme Musiker üben ein Instrument“ begannen langsam das Bewusstsein zu verändern. 
Aber es ging noch eine Stufe weiter: gar kein Musiker mehr. Nur noch ein DJ. Der lange Marsch durch die Musikinstitutionen hat sich gelohnt, damit sind die Musiker endgültig weg, also freie Sicht aufs DJ-Pult! Was Cahill nicht geschafft hat, schafften die Dorfkruders, Guettas und Co. Und dass man aus dem hedonistischen Lager verwirrter Ewigjugendlicher keine Kapitalismuskritik einstecken muss, liegt auf der Hand. Schließlich sind Spaß, Tanzen und Zudröhnen zum Lebensinhalt geworden. Das ist alles wunderbar und schön für die entsprechenden Beteiligten. Es wäre allerdings ein Akt karitativer Bescheidenheit, wenn obengenannte Großverdiener und nebenamtliche Beatbastler ihre Elaborate als Produkte und nicht als Musik bezeichnen würden.

Denn die Musik wird weiterhin leben. Durch all die wunderbaren klassischen Meister von Bach bis Miles Davis, von den Beatles bis zu Steve Reich und durch die Musiker, die sie lieben, die ihr ganz ergeben sind und alles für sie aufgeben. Und es wird immer ein Publikum dafür geben, zwar nicht mehr so ein großes wie in England im 13.Jahrhundert. Aber dafür ein interessiertes, aufmerksames, mitfieberndes, und unterstützendes! Und zwar für alle leidenschaftlichen Musiker.

mathias rüegg

Und hier eine von Laien ausgeführte, unglaubliche Alternative zum Beatbasteln:

http://www.youtube.com/embed/HW3QVLlK-kE?feature=player_embedded

Der nächste Eintrag folgt am 25.9.

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