Das nie erschienene Vorwort.
Vor zwei Jahren hatte mich der brilliante Jazzkritiker Peter Rüedi gebeten, für die Herausgabe seiner 1522 Albumrezensionen - Peter Rüedi, Stolen Moments - Echtzeitverlag - ein Vorwort zu schreiben. Das hatte ich auch gerne getan! Peter hingegen war gar nicht begeistert von meiner zweiwöchigen Arbeit im Sommer 2013; er fand sie zu wissenschaftlich, zu wenig spontan und zu wenig "jazzmässig". Nachdem das Ganze aber sehr aufwändig war - immerhin ging mein gesamter "Sommerurlaub" drauf - möchte ich es zumindet hier ein paar geduldigen Lesern als potentielle Lektüre servieren. Im Falle von Ungeniessbarkeit sofort Peters Buch Stolen Moments kaufen oder noch besser: alle 1522 CD's bestellen!
Wir schreiten zurzeit durch die Kunst wie durch ein verzaubertes Schloss, in dem längst kein Prospero mehr wohnt; wo uns die alten Bilder narren und die alten Töne: spinnwebenverhangene Spiegelsäle, und ein Déjà-vu, ein Déjà-entendu nach dem andern. Als wäre die Zeit stehengeblieben. Nicht irgendeine bestimmte Zeit, sondern alle Zeiten, und weil, als das Wünschen noch geholfen hat, vor langem, die Kunst etwas mit der Zeit zu tun hatte, in der sie erfunden wurde, und jeder von uns, sagen wir, gewisse Formen von Jazz mit einem gewissen Lebensabschnitt verbindet und für ihn auch die Musik so etwas ist wie eine Zeitkonserve, in der Erinnerungen an ganz Disparates eingeschlossen sind, Filme, Freunde, Liebschaften, Jahreszeiten, Lebensgewohnheiten und was man sonst an abgelegten Schlangenhäuten so hinter sich gelassen hat – weil dem so ist, sieht man sich jetzt in diesem merkwürdigen Zauberschloss dauernd mit sich selbst konfrontiert. Peter Rüedi 27.12.1990
Mit diesem wunderbaren Statement Peter Rüedis wird die Sicht auf dieses unglaubliche Werk eröffnet, das eintausendfünfhundertzweiundzwanzig Besprechungen von Jazz-LP’s/-CD’s beinhaltet. Ein bisher einmaliges und wohl auch letztmaliges Unterfangen in der Geschichte des Jazz, zu dem man dem Echtzeit Verlag mehr als nur gratulieren muss. Damit sich ein solcher „Schinken“ aber auch rechtfertigen lässt und als Zielgruppe nicht nur die darin Vorkommenden anspricht, braucht es ein Kaliber wie Peter Rüedi, den wohl letzten Universalgelehrten im Dunstkreis des Jazz, der mit Sprachgewalt, unbändiger Fantasie, der notwenigen Prise Humor und einer kompromisslosen Konsequenz nicht nur über Jazz, sondern auch über Kunst, über Philosophie und über das Leben schreibt. Und der jedes musikalische Werk als Metapher für ein exquisites Exposé verwendet, für das es auch den schönen Ausdruck „Trouvaille“ gäbe. Ganz im Sinne Georg Lichtenbergs Sudelbüchersammlung: „Die Neigung der Menschen, kleine Dinge für wichtig zu halten, hat sehr viel Großes hervorgebracht.“
Es gibt verschiedene Möglichkeiten sich mit diesem Werk zu beschäftigen: entweder man liest nur die kulturphilosophischen Einleitungen, die manchmal nur bedingt mit dem darauf folgenden Teil über Musik zu tun haben. Oder man beschäftigt sich nur mit dem Teil, der von der Musik handelt. Oder man gehört zu jener raren Spezies, die sich beides zu Gemüte führt. Ich erinnere mich jedenfalls an einen „running Gag“ aus den 80er-Jahren, als wir der Meinung waren, dass die aufgenommene Musik nie das Niveau von Rüedis Rezension erreichen wird. Aber vielleicht möchten Sie das ja selbst nachprüfen, indem Sie sich die eintausendvierhundertzwölf Tonträger in irgendeinem Format zulegen?
Beginnen wir mit der Musik. Als Erstes stellt sich die Frage nach den Auswahlkriterien, die Rüedi gleich selbst lapidar beantwortet:
Die Auswahl der hier vorgestellten Platten zielt also auf keinen enzyklopädischen Querschnitt, ist, in Vorlieben und Abneigungen, persönlich, wenn auch hoffentlich begleitet von zuweilen einsehbaren Begründungen. Will sagen: Hier sollen nicht nur Platten des Jahres, des Monats oder auch nur der Woche auftauchen und dem geneigten Ohr empfohlen werden, sondern durchaus auch Schnurren und Abliegendes, aber auch scheinbar Gewöhnliches – welch beides der nur gelegentliche Plattenladengänger und Regalforscher leicht übersehen mag: das eine, weil's zu fern, das andere, weil's zu nah liegt. 10.5.1984
Und praktisch sieht das dann so aus: die eintausendvierhundertzwölf CD’s sind ungefähr neunhundertvierzig Künstlern, (aufgrund von Mehrfachnennungen nicht immer ganz eindeutig) zuzuordnen. Davon entfallen 48,7 % aller Kritiken auf amerikanische Produktionen, 18,7% befassen sich mit Jazz aus der Schweiz, 6,6%, also 61 Tonträger sind Frankreich und Belgien, 52 Deutschland, und 35 Italien zuzurechnen. 29 Alben stammen aus Skandinavien, Südamerika schlägt mit 3,4%, sprich 25 Werken, zu Buche, britische Jazzelaborate liegen bei 2,7%. Osteuropa ist mit 21, Österreich mit 19, Asien mit 13 und Afrika mit 12 musikalischen Beiträgen vertreten. Die restlichen 10 Alben gehen an Spanien, Griechenland, Australien und Israel. Wenn wir die Schweiz weglassen, die hier aus lokal-patriotischen Gründen einen viel höheren Stellwert hat, als sie tatsächlich in der internationalen gegenwärtigen und historischen Wahrnehmung einnimmt, dann entsteht ein ziemlich ausgewogenes Bild, das in etwa der Realität der letzten dreissig Jahre entspricht. Allerdings gibt es auch sehr viele multinationale Formationen, wobei in diesem Fall die Nationalität des Leaders zählt. Jazzland Frankreich liegt vor Italien, das immer wieder mit einer Vielzahl hervorragender Musiker erstaunt. Skandinavien ist prominent durch Jan Garbarek vertreten, Südamerika macht vor allem wegen der kubanischen Musiker auf sich aufmerksam, und aus Osteuropa stammen spannende Einzelkünstler wie z.B. Thomasz Stanko. Deutschland ist mit ECM, Enja, Winter/Winter oder ACT das Land der innovativen Jazzlabels. Beim Betrachten der einzelnen Musiker müsste man die Reissues von den Neuerscheinungen trennen. Es geht also um die Schaffensperiode von 1984 bis 2013. Das erklärt z.B., warum Jazzgigant Miles Davis in der Anzahl der Nennungen hinter Paul Motian rangiert, oder Sonny Rollins hinter Gary Peacock.
So sieht die Reihenfolge der besprochenen Alben der amerikanischen Musiker aus: Keith Jarrett – 37, Paul Motion – 31, Miles Davis – 26, Joe Lovano – 25, Jack DeJohnette – 23, Bill Frisell – 23, Dave Holland – 23, Gary Peacock – 21 und Sonny Rollins – 21. Also drei Bläser, je zwei Drummer und Bassisten sowie ein Pianist und ein Gitarrist. Das ergäbe ein Quartett und ein Quintett (zwei Allstarbands zum Selberbasteln!). Dass das Genie Jarrett an erster Stelle liegt, kann ich nur unterschreiben. Und dass seine zwei Mitstreiter Jack DeJohnette und Gary Peacock ebenfalls prominent vertreten sind (allerdings auch dank Mehrfachnennungen) unterstreicht Jarrett’s Ausnahmestellung. Miles Davis ist mit relativ vielen Neuerscheinungen aus früheren Perioden vertreten, aber ebenso mit Tutu und You’re under Arrest. Letztere nicht gerade Rüedis Favorit. Der einzige unter den knapp vierhundertsechzig Musikern, den ich vermisse, ist Ausnahmepianist Aaron Goldberg.
In Europa sieht das Ranking folgendermassen aus: Jan Garbarek – 15, Michel Godard – 13, Enrico Pieranunzi – 11, Thomasz Stanko – 10, Kenny Wheeler – 10, John Surman – 8. Auch für mich nimmt Garbarek eine Ausnahmestellung im europäischen Jazz ein, und Pieranunzi ist sowieso eine Liga für sich. Aus österreichischer Sicht stelle ich das Fehlen von Hans Koller und Fritz Pauer fest, und der wohl der wichtigste aller europäischen Jazzmusiker, der als einziger amerikanische Jazzgeschichte (mit)geschrieben hat, Joe Zawinul, ist lediglich mit zwei Produktionen vertreten. Aber davon abgesehen sind die europäischen Jazzer in ihrer Vielfalt bestens vertreten. Unter den ca. zweihundertsechzig europäischen Musikern vermisse ich lediglich den italienischen Pianisten Franco d’Andrea sowie den holländischen Saxophonisten und Klarinettisten Joris Roelofs. Ein kurzer Blick auf die Schweizer Szene ergibt folgendes Bild: George Gruntz – 21, Fredy Studer – 17, Irene Schweizer – 15, Pierre Favre – 14, Franco Ambrosetti – 12. Auch "meine Lieblinge" wie Matthieu Michel, Andy Scherrer oder Heiri Känzig sind bestens vertreten. Die Zahl "meiner" besprochenen Werke verrate ich nicht!
Rüedis subjektive Auswahl ergibt (zufälligerweise?) einen sehr repräsentativen Überblick über die letzten dreissig Jahre der Jazzgeschichte.
Die unendlich kreativen Wortschöpfungen, Wortspiele und Anspielungen in den Überschriften laden ein, ein künstlerisches Psychogramm des Verfassers anzulegen, wobei wir mit der Literatur beginnen: Sein Lieblingsroman dürfte wohl der Roman von Heinrich Böll (1971) sein: „Gruppenbild mit Dame“ gleich zweimal (The World Is Falling Down/Abbey Lincoln und Desert Lady-Fantasy/Toshiko Akiyoshi), und die daraus abgeleiteten Titel „Gruppenbild mit Grossvater“ (New Faces/Dizzy Gillespie), „Gruppenbild mit Genius“ (T-Bop, Eric Felten/Jimmy Knepper), „Gruppenbild mit Westphal“ (Jazz und Lyrik – Ringeljazz/Gert Westphal & Metronome Quintet), „Gruppenbild mit rollendem Grossvater“ (Swing That Music/Red Hot Peppers feat. Vernell Fournier), „Gruppenbild mit fragilem Guru“ (Dona Nostra/Don Cherry). Ein weiteres Lieblingsbuch ist möglicherweise Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913): „A la recherche du père perdu“ (The Treya Quartet plays Gabriel Fauré/Paolo Fresu, „Die wiedergefundene Zeit“ (Re-Birth Of The Cool/Gerry Mulligan), „Die Suche nach der verlorenen Leichtigkeit“ (Frère Jacques-Round About Offenbach/Gianluigi Trovesi), „Die Suche nach der verlorenen Schönheit“ (Trio Libero/Andy Sheppard). Faszinieren dürfte den Germanisten auch die „Reise ans Ende der Nacht „(1932) von Louis-Ferdinand Céline, mit der er Thomas Jäderlunds Amazing Orchestra bedacht hat. In weiteren Variationen folgen „Reise ans Ende der Zeit“ (As It Grows/Russ Lossing, Ed Schuller, Paul Motian), „Reise ans Ende Der Winterreise“ (Gone Too Far/Lia Pale) und „Die Reise ans Ende der Gemütlichkeit“ (Pilgrim - Mt. Tongariro/Christoph Irniger). James Joyce’s Bildnis des Künstlers als junger Mann (1916) ist ebenfalls zweimal vertreten: einmal original (Is That You?/Bill Frisell) und einmal als „Bildnis des Jünglings als alter Mann“ (Wish/Joshua Redman).
Rüedis Filmgeschmack ist ebenso erlesen wie man es sich erwarten darf. „Trio infernal“ des Regisseurs Francis Giroud (1974) einmal als Titel für Gathering of Spirits - Saxophone Summit mit Michael Brecker, Joe Lovano & Dave Liebman und einmal als „Le Trio infernal“ für das Trio Humair, Louiss & Ponty. Alain Tanners „Le milieu du monde“ (1974) beschreibt den Swiss Jazz Summit und das Matthieu Michel Quintet, die Variation „Le milieu du Jazz“ ist für Ambrosettis Tentets reserviert. Sein oder nicht sein, Ernst Lubitsch’s grossartige Komödie aus dem Jahre 1942, beschreibt Do You Be von Meredith Monk und die Variation „To Be Or Not To Bop“ beschreibt BeBop & Beyond von Dizzy Gillespie. Woody Allen ist mit „Radio Days“, 1978 (Art Blakey' Jazz Messengers, Cannonball Adderley Sextet), und mit „Play It Again“ aus dem Jahre 1972 (Stage Set/Kate und Mike Westbrook) vertreten. Und auch das deutsche Kino darf nicht fehlen: „Der Tanz auf der Schattenlinie“ (Music Makers/Helen Merrill) spielt auf den Tanz auf dem Vulkan von Hans Steinhoff (1938) an und „Ein Satansbraten“ (A Paganini/Guidon Kremer) bezieht sich auf Werner Fassbinders gleichnamigen Film aus dem Jahre 1976.
Dass in Rüedis musikalischem Horizont auch andere Musikstile Platz finden, versteht sich von selbst: Neben „Des Knaben Wunderhorn“ (Findling/Hornroh), Gustav Mahlers Liedzyklus nach Texten von Clemens Brentano & Achim von Arnim stehen die „Bilder einer Ausstellung“ (Nordic Gallery/Sound & Fury, Matinale/Krakatau) der gleichnamigen Komposition von Modest Mussorgsky (1871). Stephen Sondheims „Send in the Clowns“ (1973) ist für Carla Bleys I Hate to Sing, Herman Hupfelds „As Times Goes By“ aus Casablanca (1931) für Sea Changes von Tommy Flanagan gedacht.
Eine weitere Serie von Titeln bezieht sich auf den Kulturphilosophen und Metaphysiker. Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung (1938-1947) findet sich als „Prinzip Hoffnung“ bei From Time To Tune Free von Joachim Kühn, Daniel Humair, Jean-Francois Jenny-Clark und bei Paris Quartet von Irène Schweizer & Andrew Cyrille wieder. „Horror Vacui“, der von Aristoteles und später Mario Praz verwendete Begriff, der den Wunsch bezeichnet, leere Flächen mit Ornamentik zu füllen, übertitelt Note'n Notes von Michel Petrucciani. News For Lulu/John Zorn, George Lewis, Bill Frisell) wird mit dem Begriff des Schweizer Architekten Robert Haussmann „Manierismo critico“ bedacht. Und der Held der Schweizer, der protestantisch-kapitalistische C.G. Jung, Antithese zum katholisch-sozialistischen Sigmund Freud, ist mit „Das kollektive Bewusste“ versteckter Namensgeber für das Album Still Live von Keith Jarrett. Viele von Rüedis Titel laden zum Schmunzeln ein: „Klänge aus der Zweierkiste“, „Die radikale Zweierkiste“, „Rappeln in der Zweierkiste“, „Flüstern und Rumpeln in der Zweierkiste“. Schweizerisch-Verschrobenem wie „Der Appenzeller, als Hunne gesehen“, „Lozärn meets Brasil“, „Chrüsimüsi“(Durcheinander), „Geissenpeters Abendlied“ folgt Ironisches wie Fucking Klartext“, „Die Neuerfindung der Klimperklampfe“, „Edition Schrott und Söhne“, „The Lady Is A Champ“, „Piranha mit Seele“, „Die feine Kunst des Keulenschlags“, „Das Horn des Exorzisten“ oder „Elegie auf einen Elegant“. Allein die eintausendvierhundertzwölf Titelgebungen könnte man wie eine Sammlung für Bonmots betrachten, aus der man sich fast vier Jahre lang ein tägliches Motto herauspicken könnte.
Der letzte Teil dieses Vorwortes folgt dem Kulturphilosophen Rüedi in seinem Bestreben, das Wesen der Kunst zu ergründen. Wir beginnen mit einer Reihe von Fragen, auf die Peter Rüedi die vielfältigsten Antworten parat hat.
1. Was ist Kunst?
Kunst […] ist die Domäne der fast aufgehenden Rechnungen, der ahnbaren, aber nie erreichten Volkommenheiten, der knapp verfehlten Perfektion und der lustvollen Fehlbeträge. Der ungesättigten Verbindungen. 22.10.1992
Das Komplizierteste einfach scheinen lassen, das Anstrengendste mühelos, das Wahrhaftigste unterhaltend. 18.10.2001
Kunst ist alles, was das Leben ist, nur all dies im Zustand des Bewusstseins, oder der Reflexion, oder der Verdichtung. 29.01.1998
2. Wie entsteht Kunst?
Alle grosse Kunst, könnte man pathetisch behaupten, entsteht aus der Spannung zwischen dem, was sie sagt (gestaltet); und dem, was sie verschweigt. Aus dem Gefälle zwischen dem Gestalteten und dessen dunklem Grund. Dem Geheimnis. 30.09.1993
Die Kunst kennt viele Motoren. Sie ist eine erotische Angelegenheit, ihr Antrieb also der Trieb. Die Liebe. Der Zorn. Das Verlangen, ein Publikum aufzuklären oder es im Gegenteil zu verzaubern. Das Bedürfnis, sich zu verwirklichen, zu behaupten, zu verlieren. 02.08.2007
Das Verbot ist der Motor der Lust, hiess einmal ein Buch von Helmut Eisendle. So weit brauchen wir nicht zu gehen, aber es ist schon was dran: ohne Grenzen keine Grenzüberschreitungen. Ohne Regeln keine Lust, sie zu brechen. Ohne Einschränkungen kein Freiheitsdrang. 16.05.1991
Kunst, wobei ich mich da aufs Komponieren beziehe, entsteht durch Abstraktion, durch Genauigkeit, durch Beherrschung von formalen Vorgängen und durch Abwesenheit von Emotion. Denn nur so sind grosse Zusammenhänge zu bewältigen. Kunst strebt nie nach bestimmten Emotionen beim Betrachter, sondern lässt sie offen. Deswegen darf man über Bachs Musik sagen, sie sei mathematisch und kalt oder sie rufe die tiefst möglichen menschlichen Empfindungen hervor. Wobei in beiden Fällen das Wesen seiner Musik nicht tangiert wird.
3. Was soll Kunst?
Was soll die Kunst: dem Amorphen geschlossene Bilder, Zeichen, Systeme entgegensetzen, oder eben, weil ihr der Gesamtzusammenhang abhanden gekommen ist (das Welt-Bild, könnte man auch sagen), zu ihrer Schwäche stehen, ihrer Vorläufigkeit und Vergänglichkeit, ihrer fragmentarischen Natur? 16.09.1993
4. Was darf Kunst?
Was darf die Kunst? Ein banales Bonmot sagt: In der Kunst, also auch in der Musik, kann einer alles – vorausgesetzt, er kann es. 12.10.2006
5. Was will die moderne Kunst?
Allerdings ist die Verweigerung von Sinn und Zweck eine vergleichsweise junge Rebellion der Kunst. Deren Absolutsetzung hängt mit dem Abtransport der Metaphysik zusammen, den das letzte Jahrhundert organisierte, als es die Heilsgeschichte durch den Fortschritt und die Zeit durch das Tempo ersetzte. 27.10.1994
6. Wann entsteht Kunst?
- In der Kunst ist nichts so aufregend wie das, was in Zeiten des Umbruchs entsteht, zwischen den Stilen oder gar zwischen Epochen. […] Deshalb ist die vorletzte Jahrhundertwende so spannend. Neuromantik, Naturalismus, Symbolismus, Jugendstil, Impressionismus, Expressionismus – das existierte alles neben- und durcheinander, mit dazu unterschiedlicher Akzentuierung in den verschiedenen Künsten. 02.04.2009
7. Über die Schönheit in der Kunst:
Der Klassiker Goethe stellte fest, Schönheit sei, in der Kunst wie im Anblick eines Menschen, nur auszuhalten, wenn ein kleiner Fehler sie erträglich, also lebendig mache. 12.03.1992
So wurde ”das Schöne” zu einer Chiffre der Repression, gegen welche die Kunst der Moderne anrannte (und in dieser Rebellion ihre eigene, vom Gegenstand in die Textur des Kunstwerks verlagerte Schönheit entdeckte). Musikalisch gesprochen, gehört die Geschichte der Dissonanz in diesen Zusammenhang. Und: Die Demontage des Schönen war eine mindestens so ernste Angelegenheit wie das Schöne selbst. 17.06.2004
8. Das Göttliche in der Kunst:
- Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Ursprünge sind, wo wir nicht sind. Eine starke Macht in der Kunst ist die Sehnsucht nach dem Paradies, aus dem uns der Biss in die Frucht vom Baum der Erkenntnis vertrieben hat: der Sündenfall der Reflexion. 19.12.1991
- Es ist ja nicht verboten, Kunst als Ergebnis eines autonomen Schöpfungsakts zu verstehen, der, erst einmal, ohne Adressaten auskommt. Wie ein Landschaftsausschnitt, ein Stein, ein Wasserfall. Gott hat, weiss der Teufel, auch nicht gefragt, ob uns die Welt gefalle, als er fand, dass sie gut war. 05.02.2004
9. Wobei der Teufel nicht so weit weg sein kann:
Dass die Technik des Teufels und der wissenschaftliche Fortschritt die Folgen eines Pakts sind, für den am Ende die Menschheit insgesamt den Preis zahlt, bewegt nicht nur grüne Fundamentalisten. Denen ist dabei kaum bewusst, wie alt der Gedanke ist. Die Natur als göttliches Prinzip hat nicht einmal Rousseau erfunden, wenn er es auch auf den Punkt brachte. Sicher aber hat die Romantik von ihm die Zivilisationsskepsis geerbt, hat die so genannte ”schwarze Romantik” ihr die dämonischen Gesichter, Formeln und Fratzen erfunden. 23.03.2000
Dass die Virtuosität des Teufels sei, ist zwar ein Vorurteil. […] Die Beargwöhnung des Virtuosen ist aber noch mehr: fast schon ein kulturgeschichtliches Leitmotiv. Eine Kunst, die auf eine Wie auch immer geartete Wahrheit zielt, verachtet die Abschweifung, das Ornament, das Zitat – den Stoff eben des Virtuosen. Virtuosität ist flirrende Oberfläche, also Lüge; Beredtsamkeit lenkt vom ”Eigentlichen” ab. 30.05.2002
10. Wer ist ein Künstler?
In den ersten Werken eines Künstlers (welcher Gattung immer) zeigen sich Grundlinien besonders klar, weil sie sich noch gegen Widerstände durchsetzen müssen. 25.01.1990
Kunst komme von Können, heisst es, aber das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Kunst kommt von Müssen. Sie ist, wenn immer sie diesen Namen verdient, nur bedingt eine freiwillige Angelegenheit. Wenn einer, der in diesem existentiellen Sinn ein Künstler ist, sich nicht äussern kann, erstickt er. Er geht oder er richtet sich zugrunde. 19.01.1995
Zu den Klischees, die uns die Romantik hinterlassen hat, gehört dieses: Ein Künstler ist nur dann einer, wenn er es ganz ist, mit Haut und Haar der Kunst verfallen wie einer Gnade oder einem Verhängnis. 22.07.2004
Ein Klischee, an das sogar selbst Künstler glauben und sich manchmal ganz danach gebärden. Dabei verhält ist es doch ganz banal: künstlerische Begabung fällt ziemlich gleichmässig auf alle menschlichen Charaktere. Den „typischen“ Künstler gibt es gar nicht. Und wenn, dann gibt es in unserer Zeit vielleicht einen bestimmten Künstler-Typus, der sich bewusst klischiert als solcher verhält. J.S. Bach, W.A. Mozart, Richard Wagner, Igor Strawinsky, Miles Davis, John Coltrane oder Billie Holiday taten/waren das z.B. nicht.
11. Wie wird Kunst wahrgenommen?
Zu oft sind Historiker das, was einer einmal bissig ”rückwärtsgewandte Propheten” genannt hat: Hinterher sind Entwicklungen immer logisch und das Amüsement über die Ratlosigkeit der Zeitgenossen wohlfeil. Was für die Geschichte gilt, gilt für die Kunstgeschichte […]. 17.10.1985
Es ist ja nicht wahr, was die rückwärtsgewandten Propheten der Kulturgeschichte sagen: dass nämlich die Leistungen der Avantgarde nur lang genug abhangen müssten, dann würden sie auch von der schweigenden Mehrheit als gut gelagerte Delikatesse verspeist. 21.01.1988
[D]ie Klassik ist von der Romantik so schulmeisterlich nicht zu trennen, und die deutsche Romantik nicht von der europäischen, und von heute her betrachtet fallen an der letzten Jahrhundertwende die Querverbindungen zwingender ins Auge als die Schwünge und Gegenschwünge der sich bekämpfenden und nachfolgenden Ismen: Symbolismus, Naturalismus, Impressionismus, Expressionismus – nicht alles eins, aber alles um das Gravitationszentrum einer historischen Situation kreisende Stile oder im besseren Fall Haltungen. 21.09.1995
Die vorurteilsfreie Wahrnehmung der Kunst ist wohl etwas vom Schwierigsten. Es gibt so vieles, das einem die Sicht auf das Wesentliche versperrt. Die Stilistik, fehlende Kenntnisse, die Sozialisation, die herrschende Meinung, oder die schlechte Qualität, z.B. bei historischen Aufnahmen. Einer meiner Lieblingssätze lautet: tausche die 32 langweiligsten Takte von Bach gegen das Gesamtwerk der Rolling Stones ein. (Als 20-jähriger war ich allerdings gegenteiliger Meinung!)
12. Das Betrachten der Kunst:
Wenn man, sagte John Cage, nur gewillt sei, einen Pressluftbohrer als Musik zu hören, höre man schon auf, unter ihm zu leiden – Lärm als Definitionsfrage. 27.10.1983
Es gibt Maler (und es sind mir die liebsten), bei denen ist schwer auszumachen, ob der Hintergrund für den Vordergrund da ist oder umgekehrt: das Besondere für das Allgemeine, das Bedeutende für das Beiläufige, das Einmalige für das Wiederholte, die Verletzung für das Muster. 13.06.1985
Ein „grosses“ Kunstwerk wird man wohl ein Leben lang anders betrachten und darin immer wieder etwas Neues entdecken können.
13. Form & Inhalt:
Nirgends ist das Wie vom Was so schwer zu trennen wie im Jazz, wenn auch der Form-Inhalt-Diskurs ein paar hundert Jahre älter ist als der Jazz. Die Oberfläche ist nicht die Hülle des Inhalts, sondern dessen Grenze. 29.03.2001
14. Avantgarde/Postmoderne:
Wo eine Avantgarde sich formiert, sucht sie nach geistigen Vätern. Kaum gab es die Surrealisten, durchforschten sie die Kunstgeschichte nach jenen, die, ihrer Meinung nach, schon im 16. Jahrhundert Surrealisten waren. Es gibt so etwas wie unfreiwillige Ahnenschaft. 24.10.1985
«Um postmodern zu sein», sagt Georg Hensel in einem zu mannigfachen Ausblicken mit ironischen Einblicken führenden Spaziergang durch die (Irr-)Gärten der Postmoderne, «um postmodern zu sein, muss man nicht postmodern sein: Es genügt, wenn man dafür gehalten wird.» 12.01.1989
Nun ist zur Zeit, die Begriffe hängen ja irgendwie zusammen, die ”Avantgarde” so wenig geliebt wie ”die Moderne”; je unbewohnbarer die Erde wird, desto dringender wird von der Kunst erwartet, dass sie noch ein paar Nischen und Kuhlen anbietet, wenn nicht das Heimelige, so doch das Vertraute; das, was schon mal war. 12.10.1989
Längst tanzt der Weltgeist nicht mehr in Hegels Dreivierteltakt, sondern legt jede Menge bizarrer Steps oder unabsehbarer Pausen ein. Vormoderne, Moderne, Postmoderne, Post-Post- oder Neo-Moderne: let's call the whole thing off. Wer blickt da noch durch. Nichts ist unmöglich. 07.07.2005
Wir leben in geschichtsvergessenen Zeiten. Waren die Klassiker einst Monumente, gegen die die Söhne späterer Generationen anrennen mussten, haben sie beides verloren, ihren Schrecken und ihre Faszination. In der Flut der Daten sind sie jederzeit verfügbar und doch verschollen. 06.09.2012
15. Kunst und Sprache: Das alte Dilemma: Könnte Musik ganz angemessen und ohne Hinterlassung eines Defizits beschrieben werden, wäre sie überflüssig. Andersrum: Einer Musik, die sich in der Beschreibung erschöpft, fehlt etwas. 24.05.2001
Am Anfang war das Wort, daran erinnern wir uns noch in bibelfernen Zeiten, allerdings nicht ohne subito anzufügen: Am Anfang des Anfangs war der Laut. Er gebar sowohl die Sprache wie die Musik. 23.08.2007
Mephisto war (ausser Gott) alles, also auch Kunstkritiker. Jedenfalls trifft sein berühmter Satz auf manches zu, was über Kunst geschrieben wird, folglich auch auf diese Kolumne: «Denn eben, wo Begriffe fehlen, / Da stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein.» 30.04.2009
16. Über Jazz:
Vielleicht war der Sündenfall des Jazz, dass er partout keine sündige Musik mehr sein wollte. […] Vielleicht war er am unfraglichsten Kunst, als er am wenigsten danach strebte, eine zu sein. 26.04.2007
Mit dem Gegenwartskult, der Spontaneitätslüge, dem Mythos des erfüllten Augenblicks ist viel Unfug getrieben worden im Jazz. Natürlich ist improvisierte Musik im Wesentlichen eine Kunst in real time, Zeitkunst im Massstab 1:1. Aber gerade deshalb erfindet und empfindet ein Improvisator nicht jeden Moment neu aus dem Nichts; er kommt aus einem doppelten Kontinuum, seiner eigenen Geschichte und der Geschichte dieser Musik. Jazz ist, gerade weil er improvisierte Musik ist, angewiesen auf vorgefertigte und vielseitig einzusetzende Partikel. Er ist eine Kunst des Zitats und des Selbstzitats, der Anspielungen sonder Zahl. 24.07.2003
Die Gegenwart ist eine Illusion. Nur der Teufel kann den Augenblick dauern lassen, oder ein Gott. Die Gegenwart ist eine Lücke, ein Loch, eine unendlich kleine Öffnung, durch welche die Zukunft in die Vergangenheit gerissen wird. Dass die Kunst, die reine Gegenwart sein will, aus dem Augenblick entsteht und mit ihm vergeht, durch die Tonaufzeichnung haltbar gemacht wird, aus dem Fluss der Zeit gehoben wird, ist, grundsätzlich betrachtet, ein Paradox. Es ist kein Zufall, dass die Geschichte des Jazz zusammenfällt mit der Geschichte der Tonaufzeichnung. Erst die Reproduktion verhalf ihm zu einer Geschichte. 31.08.2006
Definitionen des Jazz füllen Bibliotheken oder mindestens Unterabteilungen in Bibliotheken musikwissenschaftlicher Institute. Schlüssig sind sie alle nicht, handelt es sich beim four letter word doch nicht um einen Begriff, sondern allenfalls um einen Inbegriff. Um einen Gewohnheitswert, dessen Ränder verschwimmen, sobald man ihm präzis beikommen will. 08.03.2007
Lieber Peter, ich hätte da allerdings eine ziemlich schlüssige Definition, was Jazz ist: Ein französischer Schriftsteller ist dann einer, wenn er die französische Sprache beherrscht. Und zwar egal, ob es sich um ein Fachbuch, einen Roman, experimentelle Prosa oder sprachliche Dekonstruktion handelt. Basis sind seine profunden Kenntnisse des Französischen, das aus Vokabular, Grammatik, Syntax & Rechtschreibung besteht. Dasselbe gilt auch für den Jazz. Das Vokabular entspräche in etwa dem Sound, die Grammatik der stilistischen Abrufbarkeit und ihrer sinnvollen Einsetzbarkeit, die Syntax der Phrasierung und die Rechtschreibung der rhythmischen Genauigkeit. Wenn sich z.B. Miles Davis Davis oder Herbie Hancock mit Rock oder Funk einlassen, dann immer aus der Sicht des Jazzmusikers. Und deswegen klingt es dann anders, spezifischer, musikalischer.
Über den Blues:
Der Blues ist die dunkle Tinte, mit der die halbe Geschichte des Jazz geschrieben ist. […] [D]er Blues blieb der magische Brunnen, aus dem der Jazz, wenn immer er mal wieder totgesagt wurde, belebt auferstand. 30.12.1999
Zur schwarzen Seite gehört eine ganze Sozialgeschichte, jener Teil der Volksmusik, aus der der Blues stammt, und der ist, entgegen weitverbreitetem Vorurteil, weniger eine Musik der Trauer als eine des Widerstands. Ein Aufstand der Vitalität. Es gibt jenen Blues, in dem geradezu Lebensfreude explodiert, und jenen andern, der Ausdruck eines grimmigen Willens ist: sich nicht unterkriegen lassen. 10.11.2005
In der ganzen nichtklassischen, also in der sogenannten Unterhaltungsmusik und eben auch im Jazz, gibt es zwei Arten von Musik: eine, in der der Blues oder Bluesiges vorkommt, und die bluesbefreite. Letztere wirkt immer seicht, erstere immer intensiv. Und zwar zieht sich das durch sämtliche Stile der U-Musik durch. Nicht einmal die Volksmusiken sind davon ausgenommen. Diese können in ihren besten Momenten ebenfalls „bluesig“ wirken.
Die Ohnmacht der Musik:
Die Macht der Musik ist ihre Ohnmacht. Noch keine Musik hat die Welt verändert, und entgegen allen Theorien oder ideologischen Okkupationsversuchen gibt es keine ”faschistische” Musik und keine ”kommunistische”. Den Inhalt machen die Worte, das Medium des Kampfs ist die Sprache. 01.03.2001
Und wie geht es mit der Kunst weiter?
Dies ist die Zeit der Imitatoren und Nachlassverwalter, die Stunde der Zitatoren und flinken Anverwandler. Wie's weitergeht, weiss keiner; dass es keine Schubladen mehr gebe, ist angesichts der Tatsache fehlender Schränke und Kommoden auch keine tröstliche Feststellung. 15.05.1986
Wie geht's weiter, mit dem Jazz, mit der Kunst, und überhaupt? Vielleicht gar nicht. 31.05.1990
Da stimme ich mit den Autor überein. Wir leben in einer Zeit des totalen künstlerischen Stillstandes. Die Entwicklung des Jazz hat maximal drei Jahrzehnte gedauert und er hat seine Entwicklung bereits Mitte der 60er Jahre abgeschlossen, die Rock- und Popmusik brauchte dafür nur ein paar wenige Jahre, ca. von 1964 bis 1970. Seither ist sie mit wenigen Ausnahmen (Prince/Sting) zum weltweit kommerzialisierten Infantilismus verkommen. Die Klassik versucht sich gerade an der Entdeckung der „Moderne“, gewährt Strawinsky und Bartok ein Minimalstforum und verschreckt seine Abonnenten trotzdem. Dafür erreicht das Niveau der Interpretationen, und deren technisches Niveau im Bereich Klangwiedergabe ungeahnte Höhen. Was würden Bach, Mozart, Beethoven, Mahler, Strawinsky, Gershwin oder Art Tatum nicht alles dafür geben, eine ihrer Kompositionen perfekt interpretiert in Dolby 7.1 zu hören? Will heissen: in der langen Geschichte der Kunst gab es immer wieder Stillstände. Nur das sich darüber heftig Beklagen ist relativ neu und entspringt einer Zeit, in der das Wort Innovation – eigentlich ein von Joseph Schumpeter geprägter Begriff aus der Wirtschaftslehre um die Jahrhundertwende – zum modischen Zauberwort zur Beurteilung von Kunst geworden ist. Noch bis vor dreissig Jahren zog es die jungen Kreativen in die Kunst. Aber dann trat eine Trendwende ein und das kreative Potential verabschiedete sich Richtung digitale Medien. Doch wenn man bedenkt, wie rasend schnell sich vor allem Medizin, Technik, Wissenschaft und Forschung weiter entwickeln, dann kann man den momentanen Stillstand in der Kunst zugunsten der unglaublichen Fortschritte in den technischen Disziplinen ohne Wehmut zur Kenntnis nehmen.
Über Humor:
Einmal noch, bevor uns das Lachen ganz vergeht, wäre die Kunstgeschichte der Humorlosigkeit zu schreiben. […] Humor ist eine menschliche Qualität, aber nicht notwendig auch eine künstlerische. 01.01.1987
Mit dem Humor ist es so eine Sache, erst recht in der Musik. Er ist eine flüchtige Essenz, und am wenigsten hat ihn, wer ihn für sich beansprucht. 26.07.2007
In der Tat ist Humor etwas sehr Fragiles, vor allem in der Zeit deutschsprachiger Comedy, die hauptsächlich darin besteht, dass Comedians über ihre eigenen Witze lachen. Dazu passt „Sauglattismus“, Rüedis wunderbare Wortschöpfung. Das pure Gegenteil von der Ästhetik eines Komikers wie Buster Keaton, dem nicht einmal im Ansatz ein mildes Lächeln zu entlocken war.
Die besten Clowns sind Virtuosen in der Herstellung des Unzulänglichen. Sie stellen das Scheitern des Einzelnen in den Fallstricken des mundus sensibilis dar, die fürchterlichsten Stürze aus einer Heillosigkeit in die andere, aber eben kunstvoll ausgeführt. Clowns, gute Clowns, sind Katastrophenkünstler, und eben weil sie die schlimmstmögliche Wendung herbeiführen können, entgehen sie ihr. Deshalb waltet in ihrem Treiben so unübersehbar das Prinzip Hoffnung. 11.12.1997
Diese unglaubliche Formulierung lernt man am besten auswendig, zumindest den ersten Satz: Die besten Clowns sind Virtuosen in der Herstellung des Unzulänglichen. Damit gewinnt man bei jedem kulturellen Event die Herzen sämtlicher Anwesenden ganz im Rüedischen Sinn könnte man auch variieren: Frauen sind Virtuosinnen in der Herstellung ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Der Pianist als Virtuose seiner eigenen Unzugänglichkeit. Die Liebe als virtuose Herstellung der eigenen Vergänglichkeit.
Und damit man nicht einmal ansatzweise in Gefahr gerät, Rüedi als einen sich permanent beweisen müssenden Bildungsbürger abzustempeln, zum Schluss noch einige wenige von vielen humorvollen Anekdoten aus seinem literarischen Gesamtkunstwerk:
Eine meiner liebsten Theateranekdoten ist die Episode, die vom grossen Fritz Kortner berichtet wird. Der habe, nach dem Geheimnis seiner Interpretationskunst gefragt, gesagt: «Ich nehme das Stück auseinander, und dann setze ich es wieder zusammen. Aber nicht richtig.» 11.10.1990
So weit wie Ludwig Wittgenstein könnte ich nicht gehen. Erstens überhaupt, weil dem in die Höhen seiner Philosophie niemand nachsteigt, dann aber auch nicht in lebensnäheren Bereichen. Zum Beispiel im Nutritiven. Nach Cambridge berufen, wurde Wittgenstein 1939 vom Majordomus gefragt, was Herr Professor denn so am liebsten esse. Egal, sagte der, Hauptsache, jeden Tag das Gleiche. 26.02.2004
Mit Goethes FAUST ist das so eine Sache. […] Wie sagte Balzac: Nur bei den Deutschen braucht ein junger Mann des Teufels Hilfe, um ein Mädchen zu verführen. 17.08.2000
Die meisten, die ausziehen, die Welt zu entdecken, landen bei sich selbst. Wenn sie Glück haben. Negativ ausgedrückt: Sich selbst entkommt keiner. Schon Wilhelm Busch hatte den endgültigen Postkartengruss erfunden, passend für jede Weltgegend: ”Das Wetter gut, die Gegend neu / Der alte Lump ist auch dabei.” 07.11.2002
Peter Rüedi, das uneitle Gegenteil seines Lieblingsfeindes J.E. Berendt (In den Tiefen der siebziger Jahre gab es einmal eine eigentliche Duo-Mode in der improvisierten Musik, stark befördert durch den verstorbenen Joachim E. Berendt, den Panerotiker der Jazzpublizistik. Der erfand und produzierte (als Leiter der SWF Jazzredaktion, der Berliner Jazztage, einer Edition beim Label MPS etc.) gern die Trends, über die er sich anschliessend wunderte, als wären sie von ihm ganz unabhängige Naturvorgänge. 30.11.2006), jeglichem modischen Firlefanz abhold, erscheint wie ein Mann aus einem anderen Zeitalter, das er selbst so beschreibt:
Das Humboldtsche Gymnasium ist ein Garten, den wir nie mehr wiederfinden werden. Wie sehr es einer andern Generation als der Inbegriff eines kanonisierten und also unlebendigen Bildungsbegriffs erscheinen mochte (es war die Zeit, da Stadtväter an die von Semper erbauten Theater in goldenen Lettern den Satz anbrachten: ”Dem Wahren, Guten und Schönen”) – von heute her gesehen kann man nur staunen, was ein Maturand damals an geistigem Fundus zur Verfügung hatte: alles, was wir uns heute im Umgang mit Literatur mühsam aus Fussnoten und Anmerkungsapparaten erschliessen müssen, was einst selbstverständlich zum Hallraum und Assoziationsfeld von Dichtung gehörte, ob sie sich jetzt als Literatur ab ovo oder als aus Literatur komponierte Literatur verstand. Was vor allem heisst, die selbstverständliche Präsenz der gesamten antiken Mythologie und der gesamten Bibel, Altes und Neues Testament nebst sämtlichen Propheten und der Offenbarung etc. 16.06.1988
Ähnlich hätte es wohl auch Kabarettist und Universalgenie Egon Fridell gesehen, der in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit ein leidenschaftliches humanistisches Plädoyer verfasst hat. Und ganz in diesem Sinne müsste Rüedis Sammlung von den eintausenvierhundertzwölf philosophisch-musikalischen Essays „Kulturgeschichte des Jazz“ heissen. Oder irre ich mich vielleicht?
Auch Gott irrt zuweilen, wie die Anwesenheit des Menschen auf diesem Planeten beweist. Aber da wir nun mal da sind, danken wir ihm für ein paar weniger folgenschwere Fahrlässigkeiten. Dass er den babylonischen Turm nicht in den Himmel wachsen liess, in alttestamentarisch mythischen Vorzeiten, ist ja ein nachvollziehbarer Entscheid. [..…] Stellen wir uns nur vor, alle sprächen die gleiche Sprache, hätten sich aber nichts zu sagen. So bleibt uns die Hoffnung des produktiven Missverstehens. 09.12.1993
Frohe Weihnachten!
mathias rüegg
Die nächsten mentalen Yogaübungen finden am 31.12. statt!