to blog or not to blog # 12, 14.12.2014

Musik jenseits der Stile

Wie könnte man generell ein Musikstück sinnvoll beurteilen, ohne dass man bloss die eigenen Vorurteile bestätigt? Gibt es so etwas wie eine Objektivität in der Beurteilung? Vielleicht könnte man es mal so versuchen: was war/ist die Absicht des Urhebers und in welchem Verhältnis dazu steht das Resultat? Wenn man so denkt, dann könnte man es vielleicht vermeiden, Birnen mit Äpfeln zu vergleichen. Ein weitere Frage könnte sich noch dazugesellen: welche Rolle dabei spielen musikalisch-technische Vorgänge wie z.B. die Improvisation? Betrachten wir z.B. die drei folgenden Klaviersoloalben: Alone with the Blues / Ray Briant (1958, New Jazz Records), Alone / Bill Evans (1968, Verve) und Melody at Night with you / Keith Jarrett (1999/ECM). Wenn man sich die drei Meisterwerke einfach nur anhört, dann wird sich die Frage nach Improvisation nicht wirklich stellen. Schon deswegen nicht, weil jede gespielte Note „unumstösslich“ ist. Das bedeutet, dass die grossen, also die stilbildenden Jazzmusiker jahrelang an ihrer eigenen Sprache, an ihrem eigenen Vokabular gearbeitet haben, mit dem sie dann ihre Geschichten erzählen. Und die müssen möglichst gut erzählt sein. Wie es dazu kam, ist letztlich unwichtig, auch wenn diese drei Genannten selbstverständlich (auch!) grosse Improvisatoren waren. In diesem Zusammenhang könnte man vielleicht auch über das berühmteste Solo der Jazzgeschichte, Coltranes zwölf Chorusse über Giant Steps nachdenken? Wobei ja Improvisation nicht unbedingt das Hauptmerkmal der Jazzmusik ist – da gäbe es wohl vorher noch Timing, Phrasierung & Sound – denn sie spielt(e) auch in der Klassik ein grosse Rolle: in vielen Orchesterwerken der Wiener Klassik, vor allem in jenen von Mozart, gab es jeweils - meist am Ende des ersten Satzes - eine Kadenz, in der sich der Solist als Improvisator profilieren konnte. Das geriet dann später etwas in Vergessenheit, auch deshalb, weil es mehr und mehr ausnotierte Kadenzen gab. Beim KV 466 in Dm z.B. gleich acht verschiedene.

Bei Nikolai Kapustin (1937/ Horliwka) dem ukrainischen Komponisten und Pianisten treffen beinahe alle möglichen und unmöglichen Gegensätze aufeinander. Einerseits ist er ein klassischer Komponist und Pianist, andererseits kennt er die Jazzmusik bestens, improvisiert aber nicht, sondern notiert alles ganz im Stile eines klassischen Komponisten. Kapustin kann auf einen unglaublichen Fundus zurückgreifen, weil er mit allen Stilen, etwa mit Bach, Chopin & Debussy auf der einen, und mit Art Tatum, Bill Evans oder Keith Jarrett auf der anderen Seite bestens vertraut ist. So entsteht ein unglaublicher Stilmix, der trotzdem am Schluss sehr persönlich ist. Kapustin spielt seine extrem virtuose Musik meisterlich, die wohl nur von klassischen Pianisten mit einer super Time (so, wie er sie hat) zu bewältigen ist. Eines seiner zahlreichen Werke  aus dem Jahr 1988 nennt sich 24 Préludes im Jazzstil, op. 53.: Der Opener Nr.1 (leider mit etwas infantiler Visualisierung) eine Ballade Nr.3, ein Blues Nr.11 (hier ist er selber zu sehen) sowie das Schlussstück No 24:  Frage: warum wurde/wird Nikolai Kapustin eigentlich nie zum einem Jazzfestival eingeladen? Ich kann mir genau vorstellen, wie die tausend Gründe lauten könnten, die zu seiner Ablehnung führen: je nach dem aus welchem Lager: zu viel Jazz/zu wenig Improvisation, zuviel Rhythmus/zuwenig Swing, zu wenig Chopin/zuviel Chopin, zu wenig ernsthaft/zu wenig sexy usw..

Genau, und wenn wir schon dabei sind, dann gäbe es eine spannende Neuerscheinung im Bereich Grenzüberschreitung aus diesem Jahr von The Bad Plus einem sehr angesagten amerikanischen Klaviertrio, das in den letzten 10 Jahren auf sich aufmerksam gemacht hat - eine Trio-Adaptierung von Strawinskys Ballettmusik Sacre Du Printemps einem Hauptwerk des 20. Jahrhunderts, die man mehr oder weniger mit der Partitur mitlesen kann. Die Frage, die sich nicht nur in diesem Falle stellt, müsste lauten: gelingt es The Bad Plus diesem Monumentalwerk durch die Reduzierung neue Aspekte in Strawinskys Musik zu entlocken? Die Antwort liesse sich erhören. Dass das Trio davon eine Liveversion schafft, ist schon unglaublich!  Wenn wir nun Vergleiche anstellen wollen, dann würden mir ad hoc nur zwei sehr gegensätzliche Triobearbeitungen - in anderen Besetzungen gibt es natürlich viel mehr, allen voran Gil Evans’ unglaubliche Version vom Concerto di Aranjuez von Joaquín Rodrigo - einfallen: Emerson, Lake & Palmers Bearbeitung von Mussorgskys Bilder einer Ausstellung und Oscar Petersons Version von Bernsteins West Side Story
Das Wesen der Musik ist unergründlich und wandelt auf den verschlungendsten Pfaden..

mathias rüegg

Der Nächste Blog erscheint am 24.12.
Ceterum censeo, musicam electronicam esse delendam..

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