Jazz und Freiheit
Mit den Nachbarländern verhält es sich ähnlich wie mit den Nachbarn; sie sind irgendwie dauernd vorhanden, aber man nimmt sie nicht wirklich wahr und genauer kennenlernen mag man sie auch nur bedingt. Einer dieser österreichischen Nachbarn ist die Slowakei mit der Hauptstadt Bratislava/Pressburg, die vor hundert Jahren durch eine Straßenbahn mit Wien verbunden war. Heute beträgt die Entfernung per Schnellboot vom Schwedenplatz nur mehr 75 Minuten. Jedenfalls ist diese östliche Nachbarstadt eine Talentschmiede für Jazzmusiker sondergleichen. Davon zeugen u.a. der Trompeter Juraj Bartos, die Gebrüder Frantisek & Roman Janoska oder der junge Drummer David Hodek, der 2009 im Rahmen des Hans Koller Preises als 12-jähriger als Talent of the Year ausgezeichnet wurde.
Gestern verbrachte ich in der Nachbarstadt auf Einladung der Fats Jazz Band einen vergnüglichen Konzertabend bei Musik – Nomen est Omen – die hauptsächlich vom Pianisten Fats Waller stammt. Wie auch bei den von Juraj Bartos geleiteten Bratislava Hot Serenaders widmet sich die Fats Jazz Band unter Leitung des klassischen Pianisten Ladislav Fanzowicz den frühen Jazzstilen von. ca 1905 bis 1930, in dem vom jeweiligen Leader die Originalaufnahmen Note für Note transkribiert und dann von der Band originalgetreu nachgespielt werden. Ein Riesenaufwand und eine interessante Tendenz, die allerdings allen Jazzfans, die Jazz mit Freiheit oder Improvisation gleichsetzen, die Haare aufstellen könnte! Wenn wir an die Anfänge des Jazz zurückdenken, dann fällt auf, dass die Frühform, also der Rag Time - dessen „Erfinder“ Scott Joplin hieß, eine auskomponierte und niedergeschriebene Musik war in der es keine Improvisation gab. Joplin legte großen Wert darauf, als (schwarzer) klassischer Komponist anerkannt zu werden. Jedenfalls war es wohl so, dass den jungen schwarzen klassischen Musikern die Konzertsäle verweigert wurden und sie so gezwungen waren, ihre eigene „Klassik“, den Jazz zu erfinden. So hatten viele der supervirtuosen Pianisten wie Art Tatum, Fletcher Henderson, James Price Johnson oder Fats Waller (als Kirchenorganist) eine klassische Ausbildung, bevor sie sozusagen Chopin und Liszt rhythmisiert und in Stride-Piano-Versionen verwandelt hatten. Dies ist nicht uninteressanter Teilaspekt der Jazzgeschichte, den man in dem unglaublichen Buch The Rest Is Noise von Alex Ross im Kapitel 4, Unsichtbare, nachlesen kann. Es ist jedenfalls äußerst luxuriös, wenn man Songs wie Ain’t Misbehavin’ live in der Originalversion, nicht wie meist von Amateuren, sondern von Könnern hervorragend gespielt, hören kann. Denn die meisten Originalaufnahmen sind von der Tonqualität her einfach nicht gut genug, um diese Musik wirklich in sich aufsaugen und genießen zu können. Auch wenn vielleicht in manchen Momenten – ähnlich wie bei der klassischen Musik - durchaus der Verdacht von historizierendem Kunsthandwerk aufkommen mag: erst, wenn man diese Musik live hört - genau so, wie sie damals gespielt worden ist - erkennt man die unglaubliche Substanz und Kraft dieser Musik und ihrer Rhythmik und versteht, warum sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu Recht einen Siegeszug durch die ganze Welt angetreten hatte. Bis zum ersten Auftritt der Rolling Stones in den USA, am 6. Juni 1964 in San Antonio/Texas, der definitiv das Popzeitalter eingeläutet hatte..
mathias rüegg
Ps: 2007 hatte ich das Stück Tramway Vienna-Bratislava für Juraj Bartos und Ladislav Fanzowicz komponiert. Der nächste Blog folgt am 1.12.